Das kurze Leben der sowjetisch jiddischen Literatur

Das interdisziplinäre Kooperationsvorhaben »Das kurze Leben der sowjetisch jiddischen Literatur« erforscht die jiddische Literatur in der Sowjetunion von 1917 bis in die 1970er Jahre. Im Mittelpunkt stehen Dichter und Schriftsteller, die sich sowohl persönlich als auch künstlerisch im Spannungsverhältnis von Tradition und Moderne, jüdischer Zugehörigkeit und dem Bekenntnis zur Schaffung eines »neuen« sowjetischen Menschen bewegten. Ihre Lebenswege und Werke werden vor dem Hintergrund von Revolution, Bürgerkrieg und Emigration sowie der Erfahrung des Stalinismus und des Holocaust betrachtet. Fragen nach Zugehörigkeiten, gesellschaftlichen Homogenisierungsbestrebungen sowie dem Verhältnis von Universalismus und Partikularität versprechen neue Erkenntnisse für die Geschichte des östlichen Europa und seiner Judenheiten, aber auch für die gegenwärtigen Herausforderungen globalisierter Diaspora- und Migrationserfahrungen.

Ausgangspunkt des Vorhabens ist der Geheimprozess gegen führende Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees. In der so genannten »Nacht der ermordeten Dichter« vom 12. auf den 13. August 1952 wurden mit den Schriftstellern Perets Markish (1895–1952), Dovid Hofshteyn (1889–1952), Itsik Fefer (1900–1952), Leyb Kvitko (1890?–1952) und Dovid Bergelson (1884–1952) einige der prominentesten Vertreter der in der Sowjetunion zunächst geförderten, doch seit Ende der 1920er Jahre zunehmend kritisch betrachteten jiddischen Literatur erschossen.

In dem Projekt werden die komplexen Konstitutionsbedingungen und Entwicklungslinien der jiddischen Literatur in der Sowjetunion durch eine interdisziplinäre und multiperspektivische Herangehensweise erschlossen. Insgesamt fünf Forschungsvorhaben werden in enger Abstimmung mit ausgewiesenen Kooperationspartnern erarbeitet.

 

Am Dubnow-Institut entstehen

  • eine Kollektivbiografie der genannten fünf Schriftsteller sowie
  • eine Fallstudie über die Welttournee des Jüdischen Antifaschistischen Komitees 1943

 

An der Professur für Slavisch-Jüdische Studien der Universität Regensburg wird

  • eine zweisprachige Edition mit Übersetzungen zentraler Werke der 1952 ermordeten Autoren vorbereitet und
  • die literarische Auseinandersetzung mit der Gewalt gegen Juden bei Perets Markish untersucht.

 

Am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) in Berlin entsteht

  • eine Studie zum sich wandelnden Verständnis jüdischer nationaler Zugehörigkeit und Geschichte sowjetischer jiddischsprachiger Schriftsteller

 

Das Forschungsprojekt wird durch das Förderprogramm »Leibniz-Kooperative Exzellenz« im Leibniz-Wettbewerb 2020 für einen Zeitraum von drei Jahren gefördert.

Forschungsprojekte der Kooperationspartner

Jiddische Literatur in der Sowjetunion: Dichtung und Prosa, 1917–1952 (Edition)
Prof. Dr. Sabine Koller, Dr. Aleksandra Polyan (UR)

Die Wiederkehr der Gewalt: Der Fall Perets Markish
Dr. Alexandra Polyan (UR)

Historische Narrative in den Werken sowjetisch-jiddischer Schriftsteller
Irina Kissin (ZfL)

Im Rahmen des Projekts erschienene Publikation

Dovid Bergelson, »Die Welt möge Zeuge sein«. Erzählungen
herausgegeben von Sabine Koller und Alexandra Polyan
Aus dem Jiddischen von Peter Comans u. a.
Berlin: Jüdischer Verlag 2023

Dovid Bergelson, 1884 in Ochrimowo in der heutigen Ukraine geboren, prägte über vier Jahrzehnte die moderne jiddische Literatur. Ob in Kiew, Berlin, New York oder Moskau – Bergelsons literarische Stimme wurde gehört. Er gilt als Erneuerer der jiddischen Prosa zwischen Moderne und Sozialistischem Realismus, bis mit dem Zweiten Weltkrieg und der versuchten Judenvernichtung Bergelsons Schreiben schließlich eine neue, existenzielle Dimension erreichte. Am 12. August 1952 wurde Dovid Bergelson in der sogenannten »Nacht der ermordeten Dichter« in Moskau hingerichtet. Der vorliegende Band versammelt erstmalig ausgewählte Prosa sowie einen Dramenausschnitt aus Dovid Bergelsons umfänglichem Schaffen. Ergänzt sind die Texte um einen Anmerkungsapparat, ein Glossar und ein ausführliches Nachwort zum Leben und Werk Dovid Bergelsons.

Weitere Informationen

 

Rezensionen:

Jakob Hessing, Dichter ohne Zukunft. Ein aus der Not geborenes Werk: Dovid Bergelsons Erzählungen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Oktober 2023.

Alexander Kluy, Schtetl, Stalin, Agonie, in: Jüdische Allgemeine Zeitung, 28. Mai 2023.

Judith Leister, Dovid Bergelson - "Die Welt möge Zeuge sein.", in: SR Kulturradio, 24. Mai 2023.

 

Wissenschaftlicher Beirat

Prof. Dr. Gennady Estraikh
New York University

Prof. Dr. Harriet Murav
University of Illinois

Prof. Dr. Karl Schlögel
Viadrina, Frankfurt/Oder