Ressort Wissen

Geschichte eines Ringtauschs

Salman Schocken, der Novalis-Nachlass und die Nürnberger Haggadot

Das Projekt beschäftigt sich mit Handschriften – einem wesentlichen Teil des Nachlasses von Novalis (Friedrich v. Hardenberg, 1772–1801) und zwei Pessach-Haggadot aus dem 15. Jahrhundert –, die durch viele Fäden mit der Geschichte des Holocaust und den jüdischen Migrationsbewegungen im 20. Jahrhundert verwoben sind. So führt die Geschichte des Nachlasses von Novalis vom Familienarchiv seiner Nachkommen über den Berliner Autografenmarkt auch nach Jerusalem. Dorthin rettete der jüdische Verleger und Unternehmer Salman Schocken nach 1933 seine mit viel Expertise aufgebaute Sammlung hebräischer Handschriften und Drucke sowie auch seine Sammlung zur deutschen Literatur und, darin, die philosophischen Schriften und Fragmente von Novalis. Noch bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs und dann vor allem nach dem Holocaust bemühte sich Schocken darum, die wichtigsten in deutschen Sammelstätten verbliebenen hebräischen und jiddischen Handschriften und Drucke nach Jerusalem zu bringen. Im Falle der Haggadah-Handschriften aus dem Germanischen Nationalmuseum Nürnberg gelang es Schocken, sie
durch einen »Ringtausch«, der auch das Freie Deutsche Hochstift in Frankfurt am Main und finanzielle Mittel des deutschen Staats involvierte, gegen Handschriften von Novalis einzutauschen. So befinden sich diese heute wieder in Deutschland.

Die Korrespondenz über diesen Tauschhandel zeigt, wie sich nach 1945 politische sowie wissenschaftliche Überlegungen und Geschichtsdenken im Reden über Handschriften, ihre Verortung und Erforschung verbanden. Sichtbar werden Aspekte, die die Idee und den Umgang mit Kulturgut in den Jahren nach 1945 bedingten. Man versuchte sich zunächst in etablierten Bezugsrahmen zu bewegen: Es galt, Objekte von historischem Wert für die Forschung zugänglich zu machen; diese Objekte wurden wahrgenommen als Teil einer langen (nationalen) Tradition und sollten diese verkörpern. Doch war dieser Bezugsrahmen nach dem Holocaust in Frage gestellt. Während die
›Rückkehr‹ von Sammlungen aus ihrem vermeintlichen Exil auf deutscher Seite als Wiederherstellung und Heilung eines im Material sichtbaren Traditionsbruchs wahrgenommen wurde, ging Schocken, indem er die ambivalente Idee eines Tauschs verfolgte, auf das Scheitern einer deutsch-jüdischen Geschichte ein, von der er aber weder sich noch die Objekte trennen konnte. Das Forschungsprojekt rekonstruiert die Geschichte der Translokationen der Handschriften und befasst sich auf dieser Grundlage mit der Sprache, in der die Geschichte von Sammlungen in Deutschland und Israel Bedeutung gewonnen hat. Dabei geht es anknüpfend an die kunstwissenschaftliche Provenienzforschung nicht zuletzt darum, die Verbindungen zwischen materieller und intellektueller Aneignung von Objekten transparent zu machen.