Ressort Wissen

Der Gottesbegriff im Werk Abba Gordins (1887–1964)

Zum Weltbezug eines religiösen Anarchisten

Das Forschungsprojekt nimmt die Entfaltung des Gottes- und Religionsbegriffs in den Schriften des russisch-jüdischen Gelehrten Abba Gordin in den Blick. In seinem vielgestaltigen Werk berühren sich die religiöse und die anarchistische Vorstellungswelt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Als junger Anarchist wendete er sich in einem Moment der jüdischen Religionsphilosophie und den traditionell jüdischen Schriften zu, als das jiddische kulturelle Schaffen in der Sowjetunion enthebraisiert und sein politisches Umfeld religionsfeindlich wurden. Die Stationen seines Wirkens und seiner literarischen Produktivität waren Moskau während und nach den Umbrüchen 1917, New York zur Zeit der spirituellen Krise des nordamerikanischen Judentums und Ramat Gan nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier gab Gordin zahlreiche Zeitschriften und Monographien heraus, darunter religionsphilosophische, historische und moraltheoretische Arbeiten, aber auch soziologische und ökonomische Schriften. Schließlich wirkte er in literarisch-ethischen Kulturgesellschaften, doch betrat er nicht die öffentliche Bühne und blieb somit – mit Ausnahme eines kleinen Kreises von Anhängern und späterer Spezialisten der russischen Avantgarde – bis heute fast unbekannt.

Die Studie ist als Werkanalyse angelegt, mit der die Ursprünge der Gotteskonzeption Gordins rekonstruiert werden sollen. Zudem werden ihre ideengeschichtliche Herkunft und ihr wissenschaftstheoretisches Potential freigelegt sowie explizite Quellen beleuchtet, wie auch das oft implizit gebliebene Hintergrundwissen. Dieses ging in den jeweiligen Werkphasen in seine Schriften ein: teils in verstreuten Kommentaren, teils in systematisch ausgearbeiteten Abschnitten. Das Vorhaben geht insgesamt der Frage nach, vor welchem historischen Hintergrund das religiöse Interesse Gordins erwachte und auf welche Weise es sich durch die Phasen und Schichten seines Gesamtwerks zieht. Es rekonstruiert eine Denkwelt, in und mit der der Versuch gemacht wurde, die religiöse Tradition für atheistische und agnostische Kreise wiederzubeleben. Dabei sollen der politische Weltbezug Abba Gordins und dessen ideelle und religionsgeschichtliche Affinitäten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Ziel ist nicht, das Werk als einheitliches Lehrgebäude zu interpretieren, sondern es mit allen Kontinuitäten und Brüchen zu verstehen und nach­zuzeichnen.