Ressort Wissen

Die andere Produktivität:

Nationalökonomische Debatten um kapitalistische Wirtschaft und jüdische Kollektivität, 1900–1930

Die Studie ist als Gegengeschichte zum ökonomischen Antisemitismus angelegt: Am Beispiel von vier Wirtschaftswissenschaftlern und einer Sozialhistorikerin, die heute alle kaum mehr bekannt sind, zeigt sie auf, wie jüdische Gelehrte in ihrer Theoriearbeit auf die Zuschreibungen im Bereich der Wirtschaft reagierten, Zuschreibungen, wie sie klassisch etwa 1911 in der Monografie »Die Juden und das Wirtschaftsleben« von Werner Sombart erfolgten. Denn zu dieser Schrift, die so etwas wie den Status Quo der deutschen Nationalökonomie um 1900 abbildet und deren Erfolg zum Zeichen eines manifest gewordenen ideologischen Denkstils wurde, gibt es einen wissenschaftshistorisch bisher kaum ausgeleuchteten Kontrapunkt: die Schriften von Richard Ehrenberg (1857–1921), Hermann Levy (1881–1949), Julius Hirsch (1882–1961), Sigbert Feuchtwanger (1886–1956) und Frieda Wunderlich (1884–1965). Ehrenberg arbeitete etwa an einer Theorie der Handelsproduktivität, Hermann Levy rühmte in seinen Arbeiten zur Weltwirtschaft den ökonomischen Habitus der Immigranten, die er als Motoren ökonomischer Prozesse verstand, Julius Hirsch pries die Wirtschaftsideen aus Amerika als Vorbild für Deutschland und Sigbert Feuchtwanger formulierte am Beispiel der Profession des Anwalts eine ganze Kulturwirtschaftslehre freier Berufstätigkeit. Am grundsätzlichsten aber verfuhr Frieda Wunderlich, die 1926 in einer Studie zum Bedeutungswandel des Begriffs der »Produktivität« das Nachdenken über Ökonomie reflektierte und historisierte.

Alle fünf wandten sich elementaren Wirtschaftsfragen der Moderne zu, hierbei fanden sie aber gänzlich andere Antworten als Sombart. Keiner formulierte eine Kapitalismuskritik als Totalablehnung der Gegenwart oder als Ausdruck eines essentialistischen Stils einer Nation oder eines Kollektivs. Stattdessen interessierten sie sich für Unternehmermut und Beschleunigung, für Transport und Internationalisierung, für Mobilität und Arbeitsmigration, für Konsum sowie für die Zukunft der Weltwirtschaft. Bei aller Verschiedenheit hatten ihre Schriften zwei Dinge gemeinsam: Erstens gingen sie von einem anderen Begriff der Produktivität aus, denn ihre zentrale Frage lautete nicht mehr, wer als produktiv zu gelten habe und wer nicht. Zweitens richtete sich ihr Ethos dezidiert gegen den Wirtschaftsantisemitismus ihrer Zeit, da sie die moderne Ökonomie nicht als Bedrohung betrachteten, sondern in erster Linie als Chance für neue Freiheiten.