Ressort Politik

Das Verschwinden des Holocaust

Zur Transformation der Erinnerung

Kollektive Geschichtsbilder befinden sich gegenwärtig in einer Phase der Neujustierung. Das betrifft nicht zuletzt den Holocaust. Noch am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert wurde regelmäßig erklärt, dass dem Verbrechen eine zentrale Bedeutung für das zukünftige europäische Selbstverständnis zukommen werde. Ganz unabhängig davon, was von den Versuchen zu halten ist, aus dem Massenmord und seiner »Aufarbeitung« eine positive »europäische Identität« zu ziehen, werden solche Erwartungen heute nicht mehr formuliert. Im Gegenteil, die Bedeutung des Holocaust für die gesamteuropäische Erinnerung scheint im Schwinden begriffen zu sein. Das Gleiche gilt für seine Funktion als Gedächtnisikone.

Im Rahmen des Vorhabens wird den Ursachen dieser Transformation nachgegangen. Sie betrifft sowohl die Erinnerung als auch, unmittelbar damit verbunden, die Deutung des Verbrechens. Die Arbeit zielt weniger auf kurzfristige politische Verschiebungen; im Zentrum stehen vielmehr die epistemischen Bedingungen der Möglichkeit von Erinnerung und Erkenntnis über den Holocaust. Durch die Rekonstruktion der Bedingungen, unter denen der Holocaust seit den 1970er Jahren zu einer der zentralen Gedächtnisikonen des 20. Jahrhunderts werden konnte, werden einige Voraussetzungen von Erkenntnis über das Verbrechen herausgestellt. Zugleich werden sie ins Verhältnis zu den sozioökonomischen, politischen und medialen Transformationen der Gegenwart gesetzt, die die Erwartungshorizonte, gesellschaftlichen Leitbilder, Semantiken, individuellen und kollektiven Verortungen erneut verändern.

Der engere Untersuchungszeitraum reicht von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart; der historische Resonanzboden, auf dem die Untersuchung stattfindet, geht indes bis 1942/43 zurück, als die ersten Nachrichten über die systematische Massenvernichtung bei den Alliierten eintrafen. Da es sich um ein internationales Phänomen handelt, wird räumlich eine transnationale Perspektive eingenommen. In den Blick genommen werden nicht nur Deutschland und Europa, sondern auch die Vereinigten Staaten und Teile der postkolonialen Welt.