Simon-Dubnow-Vorlesung

Von Dubnow zu Rawidowicz. Über eine jüdische Nation jenseits des Nationalstaates

9. Simon-Dubnow-Vorlesung

Die neunte Simon-Dubnow-Vorlesung wurde von David N. Myers, Professor am Center for Jewish History der University of California Los Angeles gehalten. Sie trug den Titel »Von Dubnow zu Rawidowicz. Über eine jüdische Nation jenseits des Nationalstaats« und wurde auch dieses Jahr durch die Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung ermöglicht.

Im Zentrum der Vorlesung standen Simon Rawidowicz und Simon Dubnow, ihre Ideen eines jüdischen Nationalismus jenseits des Nationalstaats und die Relevanz dieser Modelle in der heutigen Zeit. David N. Myers entwickelte dabei eine historische Beschreibung der Heterogenität jüdischer Nationalismen vor der Staatsgründung Israels. Diese Beschreibung wollte er zunächst als Korrektiv zur zionistisch-etatistischen Geschichtserzählung verstanden wissen, die vom Vergessen jener Heterogenität geprägt sei. Doch nicht die historische Beschreibung allein war das Anliegen Myers an diesem Abend, sondern deren Überführung in eine politische Analyse des heutigen Verhältnisses zwischen jüdischer Diaspora und dem Staat Israel sowie die Aufforderung, den Begriff des Nationalen von seinen traditionellen Bindungen und Implikationen zu lösen. Es war demnach wohl kein Zufall, dass Myers nicht nur die nationaljüdischen Modelle Simon Dubnows und Simon Rawidowiczs würdigte, sondern auch deren Selbstverständnis hervorhob, Wissenschaft und politisches Engagement als Einheit zu begreifen.

David N. Myers betrachtete zunächst die jüdischen Diskussionen des 19. Jahrhunderts über die Frage, ob es eine jüdische Nation gebe und wenn ja, wie sie sich konstituiere. Babylon und Jerusalem ist sowohl der Titel eines Aufsatzes Rawidowiczs als auch die begriffliche Grundspannung in den Debatten um einen (möglichen) jüdischen Nationalismus. Was könne als die Heimat der jüdischen Nation gelten? Der Nichtort der Zerstreuung, die Diaspora: Babylon? Oder eher der Ort religiöser Verheißung, die jüdische Heimstätte: Jerusalem? Was wäre die Sprache der Juden? Die jiddische, die hebräische, keine von beiden oder gar beide zusammen? Die Modelle eines jüdischen Nationalismus waren, nach Myers, Folge der Erkenntnis, dass im Ausgang des 19. Jahrhunderts das Zeitalter der Emanzipation an sein Ende geraten war oder aber, dass die erfolgte Emanzipation Leerstellen im jüdischen Selbstverständnis hinterlassen habe, die mit neuem Inhalt gefüllt werden mussten. Die Modelle stellten also Reaktionen auf die Epoche der Emanzipation dar und versuchten eine Neudeutung und Neubestimmung »des Jüdischen«, »des Judentums« und »der Juden«.

Simon Dubnows Modell der jüdischen Kulturautonomie legte den Akzent auf die Diaspora. Es ging zurück auf das Konzept der Kulturautonomie Karl Renners, das von diesem Ende des 19. Jahrhunderts für die ungarische und die slawischen »Minderheiten« der k. u. k. Monarchie entwickelt worden war. Für Dubnow war die Heimstatt der Juden der Ort ihrer faktischen Existenz: Osteuropa. Damit wandte sich Dubnow gegen jede Form des Etatismus; die jüdische Nation, verstreut auf verschiedene staatliche Territorien, beziehe ihre Einheit aus einer kulturellen, geistigen und religiösen Gemeinsamkeit. Die nationale Heimat der Juden sei kein Staat, sondern die Diaspora. Mit diesem Konzept stellte er die traditionelle Vorstellung der Einheit von Nation, staatlicher Souveränität und Territorialität in Frage und betonte die Besonderheit jüdischer diasporischer Existenz.

Der seit Ende des 19. Jahrhunderts sich herausbildende Zionismus stand diesem Modell transnationaler jüdischer Kulturautonomie gegenüber, er betonte zunehmend die Bedeutung und Wichtigkeit des Staates. Theodor Herzl entwickelte die Idee eines jüdischen Gemeinwesens oder Staates, dessen territoriale Verortung keine entscheidende Rolle spielen sollte. Herzl sah den Ort der zionistischen Verheißung nicht unbedingt in Jerusalem und stimmte sowohl den Argentinien- als auch den Uganda-Plänen zu. Ganz anders Achad Ha'am, laut Myers der große Gegenspieler Herzls, der sich der Ambiguität des etatistischen Zionismus Herzls entgegenstellte. Seiner Ansicht nach brauchte der Zionismus ein klar bestimmtes Zentrum: Palästina; und er benötigte eine eindeutige Sprache, die das Neue repräsentierte: Hebräisch.

Aus den Auseinandersetzungen zwischen Babylon und Jerusalem, zwischen diasporischer Kulturnation und territorialem Nationalstaat, stach besonders die Position Simon Rawidowiczs hervor, der die Spannung zwischen diesen beiden Polen nicht in eine der Richtungen aufzulösen gedachte, sondern als Einheit in der Differenz aufrechterhalten wollte. Nach Rawidowicz besaß die jüdische Nation zwei Zentren, Erez Israel und die Diaspora. Er vertrat die Auffassung, dass nicht das Gegeneinander zweier Modelle entscheidend sei, sondern die Symbiose beider jüdischer Welten, die Schutafut (Partnerschaft) zwischen Erez Israel und der Diaspora.

Dieses außergewöhnliche Modell geriet im Verlauf der Jahre und Jahrzehnte in Vergessenheit, wofür Myers mehrere Gründe anführte. Zunächst ließ die Zuspitzung der Gegensätze zwischen diasporischem Modell und Zionismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts Positionen der Vermittlung kaum noch zu. Des Weiteren schien nach 1945 die Idee der Diaspora durch die Ereignisse des Holocaust grundlegend delegitimiert. Und nicht zuletzt etablierte der neue israelische Staat eine (nationale) Geschichtserzählung, die, von der Staatsgründung Israels ausgehend, ihr historisches Material als Endpunkt einer weitestgehend linear, monokausal und teleologisch verlaufenden Geschichte anordnete. Vor allem Letzteres sorgt heute, so Myers, für einen Zustand der partiellen Amnesie und Verklärung. Die Position eines Simon Dubnow geriet so in den Bereich der Bedeutungslosigkeit, diejenige Simon Rawidowiczs ganz in Vergessenheit.

Myers argumentierte in seinem Vortrag vom Standpunkt der Diaspora aus, der die Existenz des Staates Israel als jüdische Heimstätte ebenso anerkennt, wie er die Bedeutung der Diaspora als Teil der jüdischen Nation betont. In den Jahren unmittelbar nach dem Holocaust war eine solche Auffassung nur schwer zu halten. Heute jedoch sei das intellektuelle Erbe Simon Rawidowiczs aktueller denn je – die Idee einer jüdischen Nation, die das klassische Nationsmodell nicht adaptiert und reproduziert, sondern es vielmehr transzendiert. Die Besonderheit der jüdischen Nation ergebe sich geradezu aus ihrem unklaren Status zwischen Nationalstaat und Nation ohne Staat, aus der Existenz der Diaspora als transnationales Korrektiv nationalstaatlicher Beschränktheit und aus dem Begriff der Schutafut als Gegenbegriff zu dem der Abgrenzung.

Myers erklärte diese Position als einen möglichen Beitrag zu aktuellen Diskussionen, in denen die traditionellen Begriffe und Inhalte des Nationalen erweitert bzw. überwunden werden. Zwar könne man nicht das Ende des klassischen Nationalstaats konstatieren, aber im Zuge der fortschreitenden Globalisierung sei die Transformation des Nationalen evident. Die Idee einer unbedingten Einheit von Nation, Territorium, Staatsbürgerschaft und Staatssouveränität sei anachronistisch, weil sie den Bedingungen der Welt immer weniger entspreche. Dabei könne die Existenzweise der jüdischen Nation, die bedingt durch die besondere Form der Diaspora nie eine nationale Eindeutigkeit entwickeln konnte, Vorbild für ein Nationsverständnis sein, das sich nicht mehr an essentialistische Kategorien klammere. Dass heute wissenschaftliche Debatten über die Zukunft des Nationalen geführt werden, die sich auch auf die Theorien Karl Renners beziehen, ist für David N. Myers ein Zeichen, dass die jüdische Situation eine Vorbildwirkung entfalten könnte. Wir stehen heute, so Myers, an einem Punkt der Weltgeschichte, an dem es sinnvoll ist, an die Geschichte und die Ideen nichtetatistischer Nationalismen zu erinnern, um sie für Auseinandersetzungen der Gegenwart fruchtbar machen zu können.

 

David Jünger

27. November 2008
Alte Handelsbörse Leipzig

Die Simon-Dubnow-Vorlesung wird finanziert durch die Thyssen-Stiftung