Simon-Dubnow-Vorlesung

Raphael Lemkin und der Begriff vom »Genozid«

4. Simon-Dubnow-Vorlesung

Am 18. Dezember 2003 hielt der Historiker Anson Rabinbach von der Universität Princeton vor einer großen Zuhörerschaft die vierte Simon-Dubnow-Vorlesung mit dem Titel Raphael Lemkin und der Begriff vom »Genozid«.

 

Anson Rabinbach lehrt als Professor für Zeitgeschichte an der Universität Princeton und ist Direktor des Instituts für European Cultural Studies. In der Simon-Dubnow-Vorlesung griff Rabinbach einen zentralen Aspekt seiner aktuellen Forschungen auf. Sein Vortrag behandelte die Prägung des Begriffs »Genozid« durch den polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin (1901–1959). Vor dem Hintergrund der Massenmorde in Ruanda sowie der Politik gezielter ethnischer Säuberungen, etwa im Jugoslawien-Konflikt, haben der Begriff des Völkermords und die damit verbundenen völkerrechtlichen Konzepte in den letzten Jahren in der öffentlichen Diskussion eine verstärkte Beachtung erfahren. Wie Rabinbach schilderte, hatten die Vereinten Nationen bereits 1948, nicht zuletzt aufgrund Lemkins Engagement, eine Völkermordkonvention verabschiedet.

Die Geschichte des Begriffs Genozid läßt sich in die Zwischenkriegszeit zurückverfolgen, in eine Phase tiefgreifender politischer und geistiger Krisen in der Folge des Zusammenbruchs der großen Imperien in Europa. Rabinbach arbeitete die Verknüpfungen der Begriffsgenese mit Lemkins Biographie heraus. Raphael Lemkin, 1901 in Ostpolen geboren, war seit 1929 Staatsanwalt in Warschau. Seit seinem Studium in Lodz und Heidelberg beschäftigte er sich wissenschaftlich mit völkerrechtlichen Fragen. Als im September 1939 Deutschland Polen überfiel, floh er zunächst nach Riga. Rabinbach zitierte in seinem Vortrag aus den ungedruckten Memoiren Lemkins, in denen dieser von einem Gespräch mit Simon Dubnow in dessen Rigaer Wohnung über die den Juden drohende Katastrophe berichtet.

Von Riga gelangte Lemkin über Schweden in die USA. Fast alle seine Angehörigen fielen der Shoah zum Opfer. In den USA publizierte Lemkin 1944 die viel beachtete Studie Axis Rule in Occupied Europe, in der er den Begriff des Genozids entwickelte. Lemkin unterstrich zwar, dass die Juden »eine der wichtigsten Zielgruppen deutscher Genozidpolitik« waren, stellte aber ihr Schicksal neben die Leiden des polnischen Volkes, das, wie er annahm, ebenfalls vernichtet werden sollte, sowie neben das Los anderer Minderheiten, deren rechtlicher Status in den Friedensverträgen nach dem 1. Weltkrieg nicht eindeutig geregelt worden war. Anhand von Zitaten aus unveröffentlichten autobiographischen Dokumenten Lemkins zeigte Rabinbach eindrucksvoll, wie Lemkin seine eigene Biographie, d. h. seine Erfahrungen als Jude, in den Hintergrund stellte, indem er immer wieder die allgemeine Dimension des Genozid-Konzeptes betonte. Tatsächlich ist gerade in den 1990er Jahren die breite und etwas unscharfe Definition des Begriffes wiederholt kritisiert worden.

Lemkin starb 1959 völlig verarmt in New York. Der Schöpfer des völkerrechtlich so bedeutsamen Begriffs vom Völkermord war über lange Zeit fast vergessen. Seit einigen Jahren ist mit der Diskussion über das Genozid-Konzept jedoch auch das Interesse an der Person Lemkins wieder stark gewachsen. Die Universität Yale verleiht einen Raphael-Lemkin-Preis für Internationale Menschenrechte, und die Vereinten Nationen würdigten Lemkin anläßlich seines hundertsten Geburtstages im Jahr 2001 mit einer Gedenkveranstaltung.

 

Tobias Brinkmann

18. Dezember 2003
Alte Handelsbörse Leipzig

Die Simon-Dubnow-Vorlesung wird finanziert durch die Thyssen-Stiftung