Simon-Dubnow-Vorlesung

Geschichtserfahrung und Wissenskultur: Karl W. Deutsch – von Prag nach Amerika

5. Simon-Dubnow-Vorlesung

Am 18. November 2004 hielt der Politikwissenschaftler Andrei S. Markovits die fünfte Simon-Dubnow-Vorlesung mit dem Titel Geschichtserfahrung und Wissenskultur: Karl W. Deutsch – von Prag nach Amerika.

Andrei S. Markovits ist Inhaber des nach Deutsch benannten Lehrstuhls für Comparative Politics and German Studies an der University of Michigan, Ann Arbor und einer der maßgeblichen amerikanischen Politikwissenschaftler mit vielseitigen Forschungsschwerpunkten besonders auch zur Zeitgeschichte Deutschlands und Österreichs.

Mit Karl W. Deutsch verband Markovits eine langjährige Freundschaft, nachdem er in den sechziger Jahren bei ihm studiert hatte. So schöpfte der Vortrag aus einer tiefen Kenntnis sowohl des Werkes als auch der Person des berühmten Wissenschaftlers. Der Redner hob besonders den interdisziplinären politikwissenschaftlichen Ansatz seines Freundes und Lehrers hervor. Deutlich wurde, daß Deutsch in Themenfeldern wie Sprache, Rivalität, Ein- und Ausgrenzung, Territorialiät und kollektive Identität gewirkt und nicht zuletzt auch als Friedensforscher Bekanntheit erlangt hatte.

Karl Wolfgang Deutsch (1912–1992) wurde als Sohn jüdischer Eltern in Prag geboren. Dort legte er sein Abitur ab und machte an der Deutschen Universität im Jahre 1934 seinen ersten akademischen Abschluss. Die Fortsetzung des Studiums scheiterte an seinem aktivem Widerstand gegen die zunehmende Dominanz der Nationalsozialisten sowohl im Lehrkörper der Universität als auch in der studentischen Vertretung ab Mitte der 30er Jahre. Er verließ Prag und emigrierte nach England, wo er sich zum Augenoptiker ausbilden ließ. Daraufhin kehrte er nach Prag zurück und wurde auf der tschechischen Karls-Universität 1938 zum Doktor der Rechtswissenschaft promoviert. Ein Studienaufenthalt in den USA verlängerte sich aufgrund der politischen Entwicklungen, und die Vereinigten Staaten wurden zur neuen Heimat von Karl Deutsch und seiner Frau Ruth. In den folgenden Jahrzehnten lehrte er am Massachusetts Institute of Technology sowie an den Universitäten von Yale und Harvard. Deutsch hatte allerdings auch immer wieder Gastprofessuren in Europa, u.a. in Deutschland, inne. So amtierte er ab 1976 als Direktor des Internationalen Instituts für Vergleichende Gesellschaftsforschung des Wissenschaftszentrums Berlin.

Deutsch sah sich selbst nachdrücklich als »säkularen Universalisten«, dessen jüdische Herkunft zu keiner Zeit von besonderer Bedeutung für ihn war. In nur einer Publikation hatte er sich explizit mit dem Judentum auseinandergesetzt, und zwar in dem im April 1945 in der Zeitschrift Journal of the History of Ideas erschienenen Artikel Anti-Semitic Ideas in the Middle Ages: International Civilizations in Expansion and Conflict. Hier entwickelte er die These, dass Juden in der Geschichte aufgrund ihrer Bildung und besonders ihrer Zahlen- und Schriftkundigkeit trotz Diskriminierung und Pogromen ein Leben führten, das sich positiv von dem der Christen unterschied. Auch wenn eine Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte und Kultur als erklärtem Forschungsgegenstand bei Deutsch nicht zu verzeichnen ist, war dieser Aufsatz doch signifikant für seine Arbeit. Empirie und Zahlen wurden zum integralen Bestandteil jeder Argumentation und Grundlage seiner Theorien. Deutschs Bewunderung von Bildung und Leistung sowie von aufgeklärtem Lernen und Lehren war für seine Forschung konstitutiv.

Dies zeigte sich insbesondere am Begriff der social mobilization, der als einer der wichtigsten Begriffe Deutsch’scher Epistemologie und Methodologie in den Wortschatz der internationalen Politikwissenschaft eingegangen ist. Die Indikatoren von social mobilization waren für Deutsch sozialer Kontakt, kollektive Kommunikation, Quantität und Qualität von Schrift- und Zahlenkenntnis, Urbanität und Berufsstruktur. Entscheidend für seine Arbeit war jedoch vor allem die permanente Anwendung seiner Theorie auf der Grundlage von Gesellschaftsvergleichen.

Deutsch revolutionierte sein Fachgebiet durch die Integration der Kybernetik in das methodische Instrumentarium der Politik- und Sozialwissenschaften. Sein Buch The Nerves of Government (dt. Politische Kybernetik: Modelle und Perspektiven) aus dem Jahre 1963 demonstriert die Anwendung kybernetischer Konzepte, um eine präzisere Analyse elementarer politischer Mechanismen wie Macht, Autorität, Führung, Konflikt und Zusammenbruch möglich zu machen. Dadurch konnte jedes Detail politischer Begebenheiten und deren Konsequenz theoretisch meßbar und konkret erfaßbar gemacht werden.

Deutschs interdisziplinärer Ansatz zeigte sich besonders in der Nutzbarmachung von Ideen und der Verwendung von Termini aus der Anthropologie, der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften, der Statistik, der Mathematik, aber auch der Biologie und der Physik. Hier offenbarte sich auf besonders eindringliche Weise seine unbedingte Interdisziplinarität, die sich das Ziel gesetzt hatte, die überkommenen Abgrenzungen zwischen den unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen zu überwinden und erkenntnisfördernd zu wirken.

 

Carsten Schapkow

18. November 2004
Alte Handelsbörse Leipzig

Die Simon-Dubnow-Vorlesung wird finanziert durch die Thyssen-Stiftung