Simon-Dubnow-Vorlesung

»Das Recht, Rechte zu haben« - Arendt und Kant zu kosmopolitischem Recht und Staatsbürgerschaft

8. Simon-Dubnow-Vorlesung

Die achte Simon-Dubnow-Vorlesung, gehalten von Seyla Benhabib, Eugene-Meyer-Professorin für Politikwissenschaften und Philosophie an der Yale University, war in doppelter Hinsicht von Bedeutung. So repräsentiert der Lebenslauf von Seyla Benhabib selbst bestimmte Elemente jener Konstellationen, die die Forschungsagenda des Dubnow-Instituts bedingen, wie Dan Diner in seiner Einführung eindrücklich darlegte. Ihre Herkunft aus Istanbul und damit aus einem Raum, den mit imperialen Kontexten verbundene Multiethnizität kennzeichnet, sowie ihr sephardischer Hintergrund bilden einen Schlüssel zu den wichtigen Fragen ihres Denkens. Ihre Vorlesung, ein Plädoyer für kosmopolitisches Recht auf Grundlage neuer Formen von Zugehörigkeit, die sich vom Konzept der nationalstaatlichen Bindung des einzelnen Individuums lösen, konnte diese Affinität zwischen Erfahrung und Erkenntnisinteresse auf besondere Art und Weise vermitteln und berührte gleichermaßen einen Kern der Forschungen des Simon-Dubnow-Instituts.

In ihrem Festvortrag, der am 29. November 2007 in der Alten Handelsbörse zu Leipzig mit Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung stattfand, entwickelte Seyla Benhabib ihre Fragestellung anhand der Konzeptionen von Recht und Staatsbürgerschaft bei Hannah Arendt. Insbesondere in deren Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951) zeigt sich Arendts politische Forderung nach Durchsetzung von allgemeingültigen Menschenrechten, die nicht auf der »Zugehörigkeit zu spezifischen bürgerlichen Gemeinschaften« basieren. Hannah Arendts Überlegungen zum Thema der Staatenlosigkeit und ihr tiefverwurzelter und für alle Menschen gleichermaßen gültiger Anspruch auf ein »Recht, Rechte zu haben« werden hier formuliert und als Antwort auf die Verwerfungen verstanden, die vom modernen Nationalstaat im Europa der Zwischenkriegszeit herrühren. Eine wichtige Grundlegung für Arendts Überzeugungen sieht Benhabib bei Kant, insbesondere dessen Thesen in seiner Schrift Zum ewigen Frieden von 1795, die seine Vorstellung eines »Weltbürgerrechts« betreffen. Der Begriff »Hospitalität« bei Kant wurde dafür von Benhabib besonders hervorgehoben. Diesen habe Kant nicht als eine Tugend der Gastlichkeit oder Gastfreundschaftlichkeit gegenüber Fremden verstanden, sondern explizit als ein Recht formuliert, das für alle Individuen gelte, die sich mit friedlichen Intentionen auf fremdem Territorium bewegen. In einer Doppelstruktur von einerseits Besuchs- und andererseits Gastrecht suchte er diesen Anspruch genauer zu konturieren und band ihn an sein Konzept des »Weltbürgerrechtes«, dessen Durchsetzung bei Kant allerdings den territorialstaatlichen Souveränen verschrieben bleibt. Hier deutete Benhabib Fragestellungen an, die bis heute Gültigkeit behalten haben: Kann es allgemein gültige moralische Verpflichtungen zur Einhaltung der Menschenrechte geben und wie können diese geschützt und durch überstaatliche Rechtssprechung sanktioniert werden? Insbesondere das heutige Flüchtlings- und Asylrecht verweist, so Benhabib, auf die hier bereits artikulierten komplexen Strukturen von Gast- und Besuchsrecht.

Mit Hannah Arendt wandte sich Benhabib ganz den Fragen des kosmopolitischen Rechts zu und führte an dem spezifischen Fall der europäischen Judenheiten Arendts Analyse der mit dem modernen Nationalstaat verbundenen Aporien bezüglich der Menschenrechte vor. Im Totalitarismus, in dem die Politik »zu einem Ort des Bösen« wurde, erkannte Hannah Arendt den totalen Verlust des »Rechts, Rechte zu haben«. Die »Überflüssigmachung« von Menschen, wie Arendt sie als bestimmend für den NS-Totalitarismus kennzeichnete, habe an dem Punkt begonnen, als Millionen staatenlos und damit schutz- und rechtlos wurden. Mit dem Zerfall der multiethnischen Imperien in Europa entstanden zahlreiche Gruppierungen nationaler Minderheiten, die in den neu gegründeten Nationalstaaten Asymmetrien hervorriefen. Hier habe, nach Arendt, die »Tendenz der massiven Entbürgerung« begonnen, die Grundlage für spätere politische Entwicklungen geworden sei. Die Durchsetzung allgemein gültigen Menschenrechts, das diesen Entwicklungen widerstehe, werde nach Hannah Arendt erst dort möglich, wo eine Herstellung von Gleichheit durch »die Menschheit selbst garantiert werde«. Die Anbindung von Rechtsfragen an nationale Zugehörigkeiten führe zu den genannten Asymmetrien, die es zu neutralisieren gelte.

Seyla Benhabib bot einerseits eine konzise Darstellung der Arendtschen und mit Kant zu vermittelnden Denkfiguren zum kosmopolitischen Recht und führte andererseits in gegenwärtige Fragestellungen zur möglichen Schaffung einer universell gültigen Rechtsprechung ein, die noch immer von den gleichen Inhalten gekennzeichnet seien. Solange das Privileg auf Rechtsprechung bei den souveränen Staaten verbleibe und ihnen alle Entscheidungsmacht zukomme, könnten kosmopolitische Formen nicht zur Durchsetzung gelangen. Erst wenn »innerhalb und zwischen den Grenzen unabhängiger Republiken« eine Erweiterung des kosmopolitischen Rechts erreicht sei, so das Fazit Benhabibs, könne die Überwindung der Widersprüche bisher geltenden Menschenrechts ermöglicht werden ohne an das Konzept eines Weltstaates anknüpfen zu müssen.

An dem der Vorlesung folgenden Tag, dem 30. November 2007, bot Seyla Benhabib in den Räumen des Dubnow-Instituts in Form eines zweistündigen Workshops die Chance einer vertieften Diskussion ihrer Thesen. Unter dem Titel Hannah Arendt und Staatsbürgerschaft im Zeitalter des kosmopolitischen Rechts wurden nach einer kurzen Einführung Seyla Benhabibs auf Grundlage ihres Buches Another Cosmopolitanism. Hospitality, Sovereignty and Democratic Iterations (2006) Fragen der historischen Situierung kosmopolitischen Rechts, verschiedene Modelle universeller Rechtsprechung in ihrer Konzeptualisierung sowie den Aussichten auf Anwendbarkeit innerhalb der heutigen politischen Praxis diskutiert. Die von Benhabib dabei hervorgehobenen Momente waren angesiedelt um Fragen der Durchsetzung kosmopolitischer Normen, Fragen der demokratisch legitimierten Einführung solcher Normen und Fragen der schwer überbrückbaren Gegensätzlichkeit zwischen kosmopolitischen Normen und republikanischem Selbstbestimmungsrecht.

Ausgehend von der Diskussion um Hannah Arendts Ausführungen im Kapitel »Aporien der Menschenrechte« entwickelte sich ein intensives Gespräch zur Möglichkeit und philosophisch-politischen Tragweite einer globalen, allgemeingültigen Rechtssprechung, zu den Widersprüchlichkeiten bei ihrer Durchsetzung und zum Wirken ihrer Agenten. Am Beispiel juristischer Konstellationen in der EU oder aber zivilgesellschaftlicher Gruppen konnten bestehende Praxen diskutiert und ihre Entwicklung nachvollzogen werden.

Insgesamt vermittelten die Dubnow-Vorlesung und der Workshop mit Seyla Benhabib auf herausragende Weise, wie der Blick auf die spezifische Situation der diasporischen Judenheiten Europas in der Moderne (und vorrangig der Zwischenkriegszeit) Rückschlüsse auf Fragen der allgemeingültigen Organisation menschlichen Zusammenlebens zulässt und damit erkenntnisleitend wirken kann – eine Perspektive, die das Forschungsprofil des Simon-Dubnow-Instituts zentral bestimmt.

 

Elisabeth Gallas

29. November 2007
Alte Handelsbörse Leipzig

Die Simon-Dubnow-Vorlesung wird finanziert durch die Thyssen-Stiftung