Simon-Dubnow-Vorlesung

Angesichts des ganz Fremden: Gershom Scholem, Hannah Arendt, Victor Klemperer und der Nationalsozialismus

6. Simon-Dubnow-Vorlesung

Mit Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung richtete das Simon-Dubnow-Institut am 1. Dezember 2005 in der Alten Handelsbörse zu Leipzig seine sechste öffentliche Festvorlesung aus. Mit dem Historiker Steven E. Aschheim, der als Professor für moderne europäische Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem wirkt, hatte das Institut einen herausragenden Experten für die deutsch-jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts als Vortragenden gewinnen können. Aschheim sprach zum Thema »In finsterer Zeit: Gershom Scholem, Hannah Arendt, Victor Klemperer angesichts des Nationalsozialismus«.

Zu Beginn brachte Aschheim den Gegenstand seines Vortrages mit dem Namensgeber der Vorlesung in Verbindung, indem er auf die Beschäftigung der drei behandelten deutsch-jüdischen Intellektuellen mit der Person und dem Werk Simon Dubnows verwies. Während sich Scholem und Arendt im Rahmen ihres wissenschaftlichen Schaffens mit dem historischen und politischen Denken Dubnows auseinandersetzten, sah Klemperer eine persönliche Analogie zwischen den Erfahrungen des Historikers im revolutionären Sowjetrussland und seiner eigenen dramatischen Situation im Deutschland der frühen 40er Jahre. In seinen Aufzeichnungen schrieb er: »Die letzten Kapitel in Dubnows Autobiographie erschüttern mich. Es ist oft, als sei es mein eigenes Tagebuch. Petersburg 1917/1918 – ich schreibe in Dresden 1942 ganz, ganz Ähnliches. Die Angst um das Tagebuch. Es kann das Leben kosten. Wo versteckt man es? Aber wenn ich es nicht schreibe, werde ich meiner Aufgabe untreu! Die Sehnsucht, in historische Arbeit, in Erinnerung, in Geistiges unterzutauchen. Die Todesnähe [...] und furchtbar exponiert, die Sehnsucht, das Leben, die Arbeit zu retten, die Aufgabe durchzuführen.« Klemperer konnte zu dieser Zeit, wie Aschheim betonte, freilich unmöglich wissen, dass, als er diese ergreifenden Worte schrieb, Dubnow bereits tot war: er war im Dezember 1941 von den Nationalsozialisten in Riga ermordet worden.

Indem er in seinem Vortrag die geistige Auseinandersetzung der genannten deutsch-jüdischen Intellektuellen mit den Erscheinungsformen nationalsozialistischer Herrschaftund mit dem nationalsozialistischen Völkermord an den europäischen Juden eingehend beleuchtete, widmete sich Aschheim einer Fragestellung, die erbereits in mehreren maßgeblichen Publikationen behandelt hatte – unter anderem in der 2001 erschienenen Monographie Scholem, Arendt, Klemperer: Intimate Chronicles in Turbulent Times sowie in dem ein Jahr später veröffentlichten Band Hannah Arendt in Jerusalem. Wer die Auseinandersetzung der genannten drei prominenten Vertreter deutsch-jüdischen Geisteslebens mit dem Nationalsozialismus nachvollziehen wolle, unterstrich Aschheim, müsse sich zunächst ihre höchst unterschiedlichen persönlichen Identitäten und Weltanschauungenvor Augen führen. So blieb Scholem, der sich bereits in jungen Jahren dem Zionismus verschrieben hatte, dessen politischen Idealen zeitlebens treu. Dagegen distanzierte sich Arendt deutlich vom Zionismus; sie achtete im Rahmen ihres wissenschaftlichen Wirkens stets darauf, von keiner politischen Bewegung vereinnahmt zu werden. Demgegenüber trat der auf seine deutsche Sprach- und Kulturidentität stolze Klemperer beständig als ein glühender Verfechter deutsch-jüdischer Assimilation und als ein entschiedener Gegner des Zionismus in Erscheinung.

Auch die geographischen Orte, an denen Scholem, Arendt und Klemperer schließlich lebten, spiegelten, wie Aschheim hervorhob, die jeweils unterschiedlichen ideologischen Einstellungen getreulich wider. War Scholem (1897–1982) schon 1923 nach Palästina ausgewandert und nahm er daher die dramatischen Ereignisse seit 1933 ausschließlich aus der Ferne wahr, erlebte Hannah Arendt (1906–1975) den Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland mit. Sie ging kurz nach der nationalsozialistischen Machtergreifung ins Exil – zunächst nach Frankreich, später dann in die Vereinigten Staaten. Dagegen blieb Klemperer (1881–1960) nach 1933 in Deutschland: Durch seine Ehe mit einer »Arierin« nur notdürftig vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten geschützt, durchlebte er hier die gesamte Zeit des Dritten Reiches bis zu dessen Untergang.

Man dürfe, hielt Aschheim fest, die grundsätzlichen Gemeinsamkeiten indessen nicht verkennen, welche zwischen Scholem, Arendt und Klemperer ungeachtet ihres unterschiedlichen biographischen und weltanschaulichen Hintergrundes bestanden. Als hochgradig artikulationsfähige deutsch-jüdische Intellektuelle, die ein und derselben Bildungstradition verpflichtet gewesen seien, hätten sie über eine ähnliche Sensibilität und Analysefähigkeitim Hinblick auf die sozialen und politischen Verwerfungen und Pathologien ihrer Zeit verfügt. Dieser Umstand finde auch in der Art und Weise einen Niederschlag, in der sie sich mit der nationalsozialistischen Ideologie und mit dem Jahrhundertverbrechendes nationalsozialistischen Völkermordes auseinandersetzten und dabei zu sehr verschiedenartigen Wertungen gelangten.

Indem er jene Anschauungen der drei genannten Denker einer eingehenden Analyse unterzog, präsentierte Aschheim im Rahmen seines Vortrages vor allem im Hinblick auf das Wirken Scholems eine grundlegende Neubewertung. Entgegen derin der Forschung weitverbreiteten Auffassung, Scholem habe die Entwicklung der nationalsozialistischen Entrechtungspolitik gegenüber den Juden von Beginn an vorausgeahnt und früher als andere eine Warnung vor dem verbrecherischen Potential des Regimes ausgesprochen, wies Aschheim nach, dass sich eine solche Sicht auf keinerlei Belege in den persönlichen Aufzeichnungen Scholems stützen könne. Dessen Sache sei stattdessen stets eine Moralkritik des jüdischen Verhaltens gewesen – eine zionistische Anklage gegen die »feige«, auf grundsätzlichem Selbstbetrug beruhende Assimilationsbereitschaft derallermeisten deutschen Juden im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Zu keinem Zeitpunkt jedoch habe Scholem auf der Grundlage seiner assimilationskritischen zionistischen Grundeinstellung die Dimensionen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik vorausgesehen – und auch post factum habe er niemals eine wirklich wissenschaftliche Analyse des Phänomens Nationalsozialismus geliefert.

Anders stehe es in dieser Hinsicht im Falle Hannah Arendts, deren bekanntestes, bahnbrechendes Werk The Origins of Totalitarianism (1951) auf der Grundannahme fußte, dass die nationalsozialistische Herrschaft und der nationalsozialistische Völkermord einen beispiellosen Sündenfall in der europäischen Geschichte darstellten – weit mehr noch als die Verbrechen des sowjetischen Stalinismus – und auch nicht mit Hilfe der Kategorien des traditionellen politischen Antisemitismus begriffen werden könnten. Zwar weise Arendts Werk, erläuterte Aschheim, zahlreiche methodische Ungereimtheiten auf und gehe nicht zuletzt in seinen soziologischen Begriffskategorien von falschen Voraussetzungen aus. Allerdings müsse man seiner Autorin zugute halten, dass sie mit Origins of Totalitarianism eine einzigartige Pionierarbeit vorgelegt habe: Es habe vor dem Erscheinen des Buches – und noch mindestens ein Jahrzehnt danach – keine ernsthaften Versuche gegeben, einen politiktheoretischen Ansatz zu entwickeln, von dem aus die großen ideologischen Kataklysmen des 20. Jahrhunderts hätten erfasst werden können. Man dürfe Arendt daher, führte Aschheimaus, nicht in erster Linie daran messen, ob ihre Wertungen stets richtig und ausgewogen gewesen seien; entscheidend sei vielmehr, dass ihr – weit mehr als Scholem – das Verdienst zukomme, dem wissenschaftlichen »Diskurs über das Böse« nach dem Zweiten Weltkrieg den Weg bereitet zu haben.

Im dritten Teil seines Vortrages beleuchtete Aschheim die Auseinandersetzung Victor Klemperers mit dem Nationalsozialismus. Er stellte in diesem Zusammenhang zunächst fest, dass sich Klemperer als Gelehrter keinesfalls mit Hannah Arendt und Gershom Scholem habe messen können. Gleichwohl stellten seine umfangreichen Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren des »Dritten Reiches« eine überaus wertvolle Quelle dar, wenn man die spezifischen Charakterzüge der nationalsozialistischen Herrschaft ergründen wolle. Handele es sich doch um eine »in Echtzeit« geschriebene Chronik aus der Feder eines Mannes, der das nationalsozialistische Regime nur unter prekären Umständen und dank seiner »Mischehe« überlebte. Seine Aufzeichnungen ermöglichten einerseits faszinierende Einblicke in die Gefühlswelt und in die persönlichen Identitätskonflikte eines hochgradig assimilierten deutsch-jüdischen Bildungsbürgers im Zeichen rassistischer Diskriminierung und Verfolgung. Klemperer habe zwar stets sein Deutschtum beschworen und bestritten, dass seine jüdische Herkunft seine persönliche Identität in irgendeiner Weise geprägt habe. Freilich habe gerade er schon Ende der 20er Jahre ein äußerst sensibles Gespür für die Auswirkungen und die Gefahren des völkischen Antisemitismus besessen und – anders als beispielsweise Scholem – eine Katastrophe für den Fall herannahen sehen, dass dessen Protagonisten an die Macht gelangten.

Andererseits, unterstrich Aschheim, seien Klemperers Aufzeichnungen von unschätzbarem Wert, wenn man Aufschluss darüber gewinnen wolle, in welchem Umfang die antijüdischen Maßnahmen des nationalsozialistischen Regimes von Seiten der Bevölkerung Unterstützung erfahren hätten. Sie spiegelten im Hinblick auf diese Frage eine ungeheure Bandbreite menschlicher Verhaltensweisen wider; sie zeugten von regimetreuer Unmenschlichkeit und von Opportunismus, ebenso aber auch von regimekritischen Einstellungen und bewegenden Ausdrucksformen menschlichen Anstands. Darüber hinaus offenbarten sie jedoch in erschreckender Weise, in welchem Ausmaß Informationen über das nationalsozialistische Deportationsprogramm und über die Existenz der Vernichtungslager in der Bevölkerung bekannt wurden: So habe Klemperer lediglich aufgrund von Gerüchten – und ausländischen Rundfunksendungen – bereits im Oktober 1944 in sein Tagebuch notiert, es seien insgesamt »sechs bis sieben Millionen Juden [...] geschlachtet (genauer:erschossen und vergast) worden«.

Frank Nesemann

Victor Klemperer, »Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten«. Tagebücher 1942–1945, Berlin 1995.

1. Dezember 2005
Alte Handelsbörse Leipzig

Die Simon-Dubnow-Vorlesung wird finanziert durch die Thyssen-Stiftung