Schriften des Simon-Dubnow-Instituts

Band 8

Selbstorganisation und Bürgerlichkeit

Jüdisches Vereinswesen in Odessa um 1900

Schriftenreihe, Selbstorganisation und Bürgerlichkeit, 2007

Die Geschichte Odessas, das bis 1917 politisch Teil des Russischen Reichs war, kulturell aber in mancher Hinsicht eine Sonderstellung einnahm, bietet die einzigartige Möglichkeit, den Zusammenstoss liberaler und nationaler politischer Strömungen innerhalb des Judentums zu studieren. Bereits kurz nach der Gründung als Militärkolonie durch Zarin Katharina II. bot der neu entstandene gesellschaftliche Raum der Vielvölkerstadt Platz für eine eigenständige jüdische Bildungspolitik. Diese zielte allerdings auf eine schmale Elite ab und bediente sich der deutschen und später vor allem der russischen Sprache. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stellte eine wachsende Gruppe nationalistischer Intellektueller Ziele wie Ergebnisse dieser pragmatischen Aufklärungsideologie in Frage. Die Narrative des bis zum Ende des Zarenreiches andauernden »Kulturkampfes« (Simon Dubnow) dominierten die innerjüdische Debatte für nahezu ein Jahrhundert und fanden noch in aktuellen israelischen politischen Auseinandersetzungen ein Echo.

Um die Rhetorik dieses Konflikts zu verstehen sowie die sprachlichen und übersprachlichen Semantiken in einen Kontext einzubetten, werden die säkularen jüdischen Organisationen betrachtet, denen das Gros der Diskutanten der Jahrhundertwende entstammte. Neue Muster der Vergesellschaftung, säkulare Rituale und Praktiken der Soziabilität – alle diese Dinge wurden von Individuen in gemeinsamer Praxis belebt. Wohin Odessaer Juden als Vertreter eines modernen Judentums sich wandten, sie trugen diese erlebte Praxis als kulturelles Handgepäck mit sich.

In »Selbstorganisation und Bürgerlichkeit« werden hauptsächlich drei Vereine mit mehrheitlich jüdischer Mitgliedschaft untersucht: der »Selbsthilfeverein der jüdischen Handlungsgehilfen Odessas« (OVP), die Odessaer Filiale der »Vereinigung zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden in Russland« (OPE) sowie der »Hilfsverein zur Unterstützung jüdischer Landarbeiter und Handwerker in Syrien und Palästina« (OVZ). Als Träger des jüdischen Vereinswesens in Odessa müssen die Ober- und Mittelschichten gelten. Der Unterschied zwischen der traditionellen Bruderschaft (chebra) und dem säkularen Verein verlieh einem sozialen Unterschied Ausdruck.

Exemplarisch wird das Ringen um eine Nationalisierung der Bildung innerhalb des OPE vorgestellt. Dabei tritt neben politischen Bruchlinien ein weiteres Muster hervor: Generationalität. Die liberale Position der alten Garde jüdischer Notabeln wurde von einer Gruppe in Frage gestellt, deren Jugend in die Zeit der zunehmend reaktionärer regierenden Zaren Alexander III. sowie Nikolaj II. fiel. Die Mitgliedschaft des nach der Februarrevolution 1917 legal agierenden Sportklubs Makkabi spiegelt dies deutlich wider. Hier versammelte sich die zionistische Jugend der Stadt, darunter etwa 45% Frauen. Dank der Revolution und trotz eines mörderischen Bürgerkriegs blühte das jüdische Schul- und Vereinswesen zwischen 1917 und 1920 auf. Auch hier ließen sich die übergreifenden Muster der Vergesellschaftung nachweisen: Säkularisierung, Demokratisierung und generationeller Kulturkonflikt. Diese Muster waren nicht an jüdische Vereine gebunden.

285 Seiten mit 14 Abb. und 23 Tabellen, gebunden mit Schutzumschlag

Göttingen: Vandenhock & Ruprecht, 2007

ISBN: 978-3-525-36986-9
Preis: 37,00 € (D)
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Rezension

Yvonne Kleinmann, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 58 (2010), H. 1, 108–109.

Shaul Stampfer, in: The Russian Review 68 (2009), 155–156.

Ulrike von Hirschhausen, in: Neue Politische Literatur 53 (2008), 484–485.