Ressort Recht

Zwischen Gesetzeslücke und Grauzone.

Eine transnationale Geschichte illegaler jüdischer Netzwerke im 19. Jahrhundert

Grenz- und Hafenstädte waren seit jeher nicht bloß Orte gesteigerter Mobilität und erleichterten Warenverkehrs, sondern stellten als Berührungspunkte unterschiedlicher Rechtssysteme und ‑auslegungen auch ergiebige Räume für kriminelle Unternehmungen dar. Die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich beschleunigende Vernetzung der Welt und die damit einhergehenden Migrationsbewegungen beförderten diese Entwicklungen drastisch. Vor diesem Hintergrund brachten repressive Gesetze, willkürliche Rechtsanwendung und wirtschaftliche Nöte nicht wenige osteuropäische Jüdinnen und Juden dazu, ihre zumeist prekären Lebensverhältnisse durch Aktivitäten außerhalb des gesetzlichen Rahmens verbessern zu wollen.

Dieses Projekt nimmt illegale jüdische Netzwerke sowie Kooperationen mit dem Ziel ihrer Bekämpfung im 19. Jahrhundert in den Blick und stellt damit die Wechselwirkung zwischen kriminellen Akteurinnen und Akteuren, den sie umgebenden politischen und rechtlichen Systemen und den jüdischen Gemeinden in den Fokus – nicht selten wurden letztere zur Informationsbeschaffung oder Ahndung von Straftaten von staatlichen Behörden zurate gezogen. Gestützt auf Polizei- und Gerichtsakten, Korrespondenzen jüdischer Vertretungen und Zeitungsberichterstattung sollen die Arbeitsmodi solcher Netzwerke unter anderem in Wien, Lemberg, Odessa und St. Petersburg offengelegt und damit die von den Protagonisten – und nicht selten auch Protagonistinnen – genutzten sowie selbst geschaffenen Handlungsspielräume näher beleuchtet werden. An der Schnittstelle von jüdischer Geschichte im östlichen Europa, Migrations- und Rechtsgeschichte sowie historischer Kriminalitätsforschung folgt das Projekt den Routen der illegalen Akteurinnen und Akteure innerhalb des Russischen Reichs und Österreich-Ungarns und geht ihren Migrationsbewegungen von den Heimatländern in Richtung Süd- und Nordamerika nach. Eine detaillierte Untersuchung jüdischer Straffälliger und ihrer Lebensrealitäten in ihren verschiedenen Kontexten eröffnet eine Perspektive auf Globalisierungs- und Mobilitätserzählungen, die den Blick für Ambivalenzen in der Erfolgsgeschichte der Moderne schärft.