Flucht des Wissens
Zwangsmigration jüdischer Gelehrter nach Europa, Amerika und dem Nahen Osten, 1933–1945
Jüdische und oppositionelle Wissenschaftler:innen gerieten 1933 im nationalsozialistischen Deutschland in den Malstrom von Exklusion und Verfolgung. Zahlreiche Betroffene flüchteten ins Exil, wo sich für eine kleinere Anzahl von ihnen eine Trias etablierte, die sich ihrer globalen Vermittlung an Hochschulen und Forschungsinstitutionen widmete: Erstens wurden Hilfsorganisationen wie die »Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“ in Zürich, der »Academic Assistance Council« in London, das »Comité International Pour le Placement des Réfugiés Intellectuels« in Genf, und das »Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars« in New York Anlaufstellen, die global Empfehlungen an Universitäten aussprachen. Zweitens partizipierten Schlüsselfiguren wie Philipp Schwartz (1894–1977) in Zürich und Istanbul, Salo W. Baron (1895−1989) in New York oder Max Born (1882–1970) in Cambridge und Edinburgh an den Anwerbungen, versorgten Geflüchtete mit Referenzschreiben und als »arrival broker« mit ankunftsspezifischem Wissen. Drittens rekrutierten Universitäten und Sammlungseinrichtungen weltweit geeignete Kandidat:innen. Doch nicht alle Bewerber:innen wurden positiv bewertet, sie mussten sich einem diffizilen Auswahlprozess unterziehen, der von zahlreichen Parametern bestimmt war, die nicht zuletzt von den unterschiedlichen politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen der Aufnahmeländer abhingen.
Das Habilitationsprojekt rückt diese transnationalen Netzwerke und Prozesse von Unterstützung, Auswahl und Vermittlung von Wissenschaftler:innen in einer vergleichenden Perspektive in den Fokus. Ausgehend von einzelnen Fallstudien steht das Zusammenspiel der Akteur:innen der akademischen Fluchthilfe in den 1930er und 1940er Jahren in Europa, Nord- und Lateinamerika sowie dem Nahen Osten im Zentrum. Die Studie nimmt Spannungen, Dissonanzen und Konflikte der (jüdischen) akademischen Not- und humanitären (Selbst-)Hilfe in bislang wenig berücksichtigten Regionen wie der Türkei, Palästina und Schweden in den Blick und berücksichtigt die von Zwangsexilierten lancierte, auf Selbstverwaltung basierende, Migrations- und Ankunftsinfrastruktur. Somit leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Erforschung von Humanitarismus, Migration und Exil.