Zeitbeobachter
Beschreibungen der Gegenwart in der Moderne
Als »Zeitschriftsteller« bezeichnete Ludwig Börne 1818 den Publizisten und damit sich selbst: Eine Zeitschrift sei ein »Tagebuch der Zeit« und müsse gerade das schlechthin Ephemere, die wechselnden öffentlichen Meinungen notieren; sie könne nicht das schwere Gold ewiger Wahrheiten bieten, versorge ihre Leser aber mit dem »ausgemünzten Wissen«, das für den »Wechselverkehr« zwischen Leben und Wissenschaft notwendig sei. Es sind Medien der Großstadt, die für Börne ihrerseits Ort der Aktualität sind, »der Telegraph der Vergangenheit, das Mikroskop der Gegenwart und das Fernrohr der Zukunft«. Der Journalist als Zeitbeobachter verliert seinen kontemplativen Ort, ist nicht mehr »Geschichtsschreiber«, sondern »Geschichtstreiber«.
Diese Figur des Zeitbeobachters denkt ein neues, unmittelbares, aber auch prekäres Verhältnis zur Zeit – und dies in einem doppelten Wortsinne: Der Zeitbeobachter beobachtet die Gegenwart, er steht aber auch in ihr, wird geradezu zu ihrem Sprachrohr und liefert sich ihr somit auch aus. In beiden Formen wird er eine zentrale Figur für die Literatur am »Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik« (Wolfgang Preisendanz). Dies bleibt auch für das 20. Jahrhundert wichtig, in dem die immer stärker politisierte Erfahrung von »Zeitverkürzung« und »Beschleunigung« (Reinhart Koselleck) zu artikulieren und denkerisch zu verarbeiten ist. Unter Rückgriff auf vormoderne Formen wie die Chronik und deren modernisiertes Format der vermischten Nachrichten, wird die Geschwindigkeit der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen professionell in den Blick genommen: in der Tageszeitung, speziell in Glosse und Essay, Feuilleton und Kommentar, in der Fotoreportage und im offenen Brief, der als direkte politische Intervention jenseits von Herrschaftstraditionen und -hierarchien fungiert.
Zeitgenossenschaft als Problem, Zeitzeugenschaft als Perspektive und Augenzeugenschaft als Teil des Nachrichtenzusammenhangs – sie schärfen unseren Blick auch auf theoretische Kategorien, auf Geschichtsphilosophie und Zeitgeschichte. Dabei etablieren sich nicht nur neue Textformen, sondern es verändern sich auch die traditionellen von Lyrik und Essay, Roman und Autobiografie. Für die historische Betrachtung stellen diese gleichzeitig eine wichtige Quelle wie eine Herausforderung dar: Denn sie zeigen zwar die Reaktionen auf die Moderne in actu, aber verlangen auch oft aufwendige Kontextualisierung; sie rufen nach Historisierung, die aber stets droht, das akute Moment in ihnen ruhigzustellen.
Der eintägige Workshop setzt mit sechs Vorträgen den Austausch zwischen dem Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin und dem Leibniz-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow fort, der unter dem Titel Theoriegeschichte und Jüdische Geschichte im Frühjahr 2017 erstmals in Leipzig durchgeführt wurde.
Nicolas Berg (Berlin), Aurelia Kalisky (Berlin), Dagi Knellessen (Leipzig), Enrico Lucca (Leipzig), Barbara Picht (Berlin), Inka Sauter (Leipzig), Falko Schmieder (Berlin), Daniel Weidner (Berlin)
23. Februar 2018
Zentrums für Literatur- und Kulturforschung (ZfL), Berlin
Eine gemeinsame Veranstaltung des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) Berlin und des Leibniz-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow (DI).