Workshop

Unvollendetes, Zerbrochenes, Verlorenes: Über das Fragment

ZfL-DI-Workshop: Jüdische Geschichte und Literaturforschung

Anne Brannys, Essays on Oblivion (2016), Tusche auf Papier, erste Zeichnung einer dreiteiligen Serie, je 21 x 15 cm

Programm

Viele historische Wörterbücher und propädeutische Nachschlagewerke enthalten keinen Eintrag »Fragment«, obwohl gerade die Arbeit mit Bruchstücken und Überlieferungslücken zu den Grundlagen aller historischen, historiographischen und auch geschichtstheoretischen Arbeit gehört. So müssen sich Historikerinnen und Historiker in anderen Fächern und Fachtraditionen kundig machen, um sich zu diesem Schlüsselbegriff der Geisteswissenschaften einen Überblick verschaffen zu können, im »Historischen Lexikon der Rhetorik« (1996) oder im Lexikon »Ästhetische Grundbegriffe« (2001) zum Beispiel, die je einen ausführlichen Eintrag enthalten. Gehören, so ließe sich im Anschluss an diese eingeschliffene Zuständigkeitsverteilung fragen, Begriff und Konzept des »Fragments« also eher in den Bereich von Ästhetik und Literatur, als in den der Geschichte? Und wenn dem so ist: Wie könnte man ihn in den Geschichts- und Kulturwissenschaften für die eigene Fachdiskussion und -tradition zurückholen und wieder produktiv machen?

Der Workshop möchte in verschiedenen Zugängen den Status des Fragments und des Fragmentarischen historisch wie geschichtstheoretisch und literaturästhetisch beleuchten und diskutieren. Gefragt wird nach dem dialektischen Verhältnis von Fragment und Ganzheit, nach ideellen Prägungen und materiellen Einschreibungen, nach der Symptomatik des Unvollendeten und Unvollständigen, des Zerbrochenen und des Zerstörten im und nach dem Holocaust und deren Bedeutung für die jüdische wie für die allgemeine Geschichtserfahrung der Moderne.
Besonders die verschiedenen Formen und Gestalten des Fragments sollen Gegenstand der Diskussion sein – von der unvollständigen Überlieferung über Torso gebliebene Werke bis hin zur ästhetischen Norm des Fragmentarischen in unterschiedlichen Epochen, etwa in der Romantik, in der Postmoderne oder in der Literatur der Shoah. Im Zentrum des Arbeitsgesprächs steht stets die Frage nach den spezifischen Erkenntnispotentialen des Fragments.

 

10. Februar 2023
Dubnow-Institut

Gemeinsamer Workshop des Leibniz-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow Leipzig (DI) und des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung (ZfL)

Bisherige Workshops:

Theoriegeschichte und jüdische Geschichte (2017)
Zeitbeobachter. Beschreibungen der Gegenwart in der Moderne (2018)
Das kurze Leben der sowjetisch-jiddischen Literatur (2019)
Schulen, Gruppen, Stile. Denken, kollektiv betrachtet (2020)
Epochenschwellen und Epochenzäsuren (2021)