Das biografische Paradox: Biografien als Fenster zur Welt – oder bloß ein Narrativ?
Vortrag mit Thomas Etzemüller (Oldenburg) im Rahmen der digitalen Vortragsreihe »Vom Erkenntniswert des historischen Individuums. Neue Perspektiven der Biografieforschung«
Die Biografie ist ein ebenso klassisches wie facettenreiches Genre. Längst sind es nicht mehr nur die »großen Männer«, die würdig erscheinen, um an ihren Viten exemplarisch historische und gesellschaftliche Prozesse zu rekonstruieren. In der deutschen Geschichtswissenschaft wurde das Erkenntnispotenzial von Biografien in den 1960er Jahren zunehmend infrage gestellt. Mit dem Einzug der Strukturgeschichte galt die auf einzelne Akteure konzentrierte Methode vielen Historikern als unzulänglich. Seit den 1990er Jahren erlebt die Biografieforschung jedoch allen Unkenrufen zum Trotz einen Aufschwung. Mitunter wird sie gar zur »Königsdisziplin« stilisiert. Großer Beliebtheit erfreut sich die Methode derzeit auch in den Jüdischen Studien. Dabei sind die grundlegenden Probleme, die sich beim Verfassen einer Biografie ergeben, nach wie vor präsent, vor dem Hintergrund der weitgehend etablierten poststrukturalistischen Theoriebildung sogar ungleich größer. Muss etwa die narrative, auf Kohärenz angelegte Struktur der Biografie zwangsläufig die Kontingenz individueller Lebensläufe verneinen? Ist es möglich, zwischen dem Anspruch auf die Einheit des zu beschreibenden Individuums und neueren Erkenntnissen über dessen Fragmentierung zu vermitteln? Diesen und anderen elementaren Fragen wird das Forschungskolloquium im Wintersemester nachgehen. Die Vortragsreihe widmet sich zum einen der allgemeinen methodischen Reflexion über die Herausforderungen des Genres. Zum anderen sollen am Beispiel von aktuellen Forschungsprojekten, die sich jüdischen Intellektuellen und Politikern widmen, Kernprobleme veranschaulicht und diskutiert werden.
30. November 2016, 17.15 Uhr
Dubnow-Institut